Erwachsen-Werden

Damit wir Verantwortung übernehmen können, müssen wir mental und emotional erwachsen werden. Dass die meisten Menschen sich noch oft wie Kinder verhalten und scheinbar nicht eigenständig denken und handeln können, hat wohl zwei Gründe: Zum einen sind wir systematisch zur Unselbstständigkeit erzogen und konditioniert worden. Zum anderen kennen wir keinen konstruktiven, bewussten Umgang mit Angst. Um Angst nicht spüren zu müssen, beugen viele sich in würdeloser Hörigkeit den anerkannten „Autoritäten“, die sie für mächtig halten. Dieser psychologische Mechanismus der Selbstaufgabe ist als Stockholmsyndrom beziehungsweise Identifikation mit dem Aggressor bekannt. In der Kindheit ist die Abhängigkeit von den Eltern oder anderen Autoritätsfiguren tatsächlich noch so groß, dass Kinder sich automatisch mit diesen identifizieren, bis in der Pubertät die Ablösung nötig wird. Eine echte Individuation findet dann aber meist nicht statt, sondern die Abhängigkeit verlagert sich lediglich auf neue Autoritäten und Instanzen. Durch das Schulsystem wurde man ja darauf trainiert, ein reibungsloser Befehlsempfänger zu werden, ohne eigene Meinung und Kreativität. Man konnte keine Erfahrungen mit Eigenständigkeit, Selbstwirksamkeit und Schöpferkraft machen, sofern man sich nicht selbst in der Jugend kreative Freiräume verschafft hat.

Die Bequemlichkeit der Menschen kommt den herrschenden Machteliten zugute und wird deshalb von diesen und von den pyramidalen Systemen gefördert. Der Mensch soll möglichst ein Leben lang wie ein unmündiges Kind in Systeme eingebunden sein, die ihn kontrollieren und über ihn verfügen: Wir finden es „normal“, dass Unternehmen nicht von den dort Arbeitenden selbst organisiert und geführt werden, sondern von Kapitaleigentümern, die über alles bestimmen und ausschließlich an Profitmaximierung interessiert sind. Ebenso finden wir ein Gesundheitssystem „normal“, das völlig von Profitinteressen korrumpiert ist, weil die pyramidale Machtstruktur „von oben“ die Paradigmen, Richtlinien, Methoden und so weiter vorschreibt. Genauso verhält es sich mit der Wissenschaft und mit den Medien – alles ist korrumpiert, aber die Untertanen merken es nicht einmal, weil es so bequem ist, die Verantwortung abzugeben. Doch nun sind wir mit einer neuen Situation konfrontiert, wo das endgültig nicht mehr funktioniert. Dadurch haben wir die Chance, als Kollektiv aufzuwachen.

Viele hoffen immer noch wie Kinder auf einen Retter, der die bösen alten Elternfiguren beseitigt und eine neue Ordnung für sie aufbaut, geführt von altruistisch motivierten Autoritäten. Doch dieser Wunschtraum bleibt unerfüllbar, und wer weiter in der kindlichen Opferrolle verharrt, wird womöglich zunehmend Leid erfahren, bis er eine echte Vision entwickelt. Diese Vision verlangt unser aller Mitwirken, als ebenbürtige, kreative Schöpferwesen, die sich selbst demokratisch organisieren. Jeder wird dann im Rahmen seiner Aufgaben Verantwortung für das Gelingen des Ganzen übernehmen – und zugleich wird auch jeder die Mitverantwortung dafür tragen, dass alle ihren Aufgaben verantwortungsvoll gerecht werden. Menschen mit Führungskompetenz oder mit Expertenwissen können im Einvernehmen mit allen anderen bestimmte Aufgaben übernehmen, aber nicht andere beherrschen oder ihnen Entscheidungen oder das Denken abnehmen.

Der Weg in das neue, erwachsene Miteinander tut sich auf, wenn wir uns unseren Ängsten stellen. Dann müssen wir nicht mehr blind irgendwelche Rollen spielen, in denen wir uns sicher fühlen. Die illusorische Sicherheit beruht darauf, dass wir unsere Angst nicht spüren, solange wir nach einem Schema funktionieren, das andere von uns verlangen, oder in toxischen Verhältnissen verharren, wo wir uns von scheinbar Mächtigeren ausbeuten lassen, um von ihnen „beschützt“, geduldet oder einfach nur nicht terrorisiert zu werden. Solange wir in unserer alten Trauma-Starre gefangen bleiben, können Angreifer uns ganz einfach manipulieren. Uns von unseren Ängsten und blinden Flecken zu heilen bedeutet, wieder klar sehen zu können und unsere verlorene Kraft zu uns zurückzuholen. Wie dringend wir das nötig haben, ist seit 2020 offensichtlich. In der „traumatisierten Gesellschaft“ haben alle massive ungeheilte Themen und sollten ihr inneres Kind heilen, um aus der Gehirnvernebelung und Fremdbestimmung herauszukommen. Wurde das traumatisierte innere Kind mit seiner Angst abgespalten, fällt man in bestimmten Trigger-Situationen in ein hilfloses, abhängiges Opferverhalten und kann keine freien Entscheidungen mehr treffen. Liebevolle Arbeit mit dem inneren Kind kann dieses erlösen, den Gefühlsstau abbauen und Klarheit, Freiheit und Handlungsfähigkeit zurückbringen.

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